München, Anfang der 80er Jahre, die Hoch-Zeit der Chichi- und Bussi-Gesellschaft. Rudolph Moshammer (Thomas Schmauser) gehört zu den angesagtesten Modemachern der weißblauen Landesmetropole. An der Seite seiner Mutter (Hannelore Elsner) empfängt er in seinem Laden in der Maximilianstraße die Schickeria der Stadt – und alle, die irgendwie dazugehören wollen. Aber seinen Teilhabern und stillen Financiers Gerdi (Sunnyi Melles) und Toni (Hanns Zischler) ist das nicht genug. Die Superreichen, der Hoch- und Geldadel, sollen angezapft und die Medien für mehr Präsenz in der Öffentlichkeit genutzt werden. Und auch die Mama hat eine Idee: Ließe sich nicht Mosis heimliches „Herz für Obdachlose“ wirksam in den Medien lancieren? Einer, der das Geschäft in die Gewinnzone bringen soll, wurde auch schon geködert: Konstantin Graf von Antzenberg (Robert Stadlober). Ein doppelt lohnenswerter Blaublüter; denn der hat noch einen depperten Zwillingsbruder. Auch der muss eingekleidet werden, das Ganze multipliziert mit den zahlreichen Wohnsitzen der beiden Österreicher – da kommt schon was zusammen. Dumm nur, dass beim ersten Besuch des Grafen im Laden sowohl Moshammer anfangs unpässlich wirkt als auch Evi (Lena Urzendowsky), die neue Verkaufsassistentin, von dessen Natürlichkeit Moshammer seine Kundschaft eigentlich berühren lassen will, mit ihrer Ehrlichkeit den werten Grafen vor den Kopf stößt.
Foto: BR / Julie Vrabelova
Das Leben eine Inszenierung, Kommunikation ein Rollenspiel zwischen Sein und Schein, bei dem sich der Betrachter selten sicher sein kann, ob etwas ernst gemeint oder pure Ironie ist. Der Fernsehfilm „Der große Rudolph“ lebt von dieser permanenten Spannung, dem ständigen Hinterfragen des Dargestellten. Auch das oben erwähnte, peinlich-bizarre Verkaufsgespräch zwischen dem merkwürdigen Grafen und dem vermeintlich abweisenden, schwermütigen Moshammer, unterstützt vom ebenfalls nur scheinbar naiven Ladenmädchen, nimmt in seinem Verlauf mehrere Wendungen. Am Ende obsiegen Psychologie, die Kunst der Verstellung und eine Philosophie des Trivialen, die dem Gegenüber eine Banalität als extravagante Klugheit verkauft. Zeremonienmeister ist Rudolph Moshammer. Ein großer Verkäufer, ein großer Schauspieler, ein großer Manipulator. Alexander Adolph (Geburtshelfer der Reihen „Unter Verdacht“ und „München Mord“) erzählt frei nach dem Leben des Münchner Paradiesvogels die Geschichte von einem Mann, der sich aus kleinen Verhältnissen hochgearbeitet hat. Auch wenn er es geschafft zu haben scheint, so bleibt doch die Angst, nicht mehr geliebt zu werden und alles zu verlieren, sein ständiger Begleiter. Unsicherheit und Unfreiheit sind auch die Quellen, aus denen sich das Leben seiner Kundschaft speist. Dieser Graf von Antzenberg beispielsweise ist zwar unermesslich reich, dafür arm an Lebenserfahrung, Geschmack und Selbstbewusstsein. Bei so einem hat Moshammer leichtes Spiel. Bei seiner Mutter ist das anders. Diese niederträchtige, auf jene Evi zutiefst eifersüchtige Person kennt ihren „Bub“ – und der kennt sie. Er weiß deshalb auch genau, dass nicht diese „kleine, verhuschte arme Sau“ ihn betrogen hat, sondern dass sie das Opfer einer Intrige seiner Frau Mama wurde.
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Mit einem überschaubaren Personal gelingt Autor-Regisseur Adolph etwas, worauf sich hierzulande nach Dieter Wedel („Gier“ war der letzte mittelprächtige Versuch des großen Zampanos in diese Richtung) und Helmut Dietl (unerreicht: „Kir Royal“) nur noch selten Sender, Produzenten und Filmemacher einlassen: eine Gesellschaftssatire. Das nimmt man umso erfreuter zur Kenntnis, als aus der Figur Moshammer ja leicht ein Fall Moshammer hätte werden können. Aber der Grimme-Preisträger hat darauf verzichtet, den gewaltsamen Tod des Modemachers (er wurde 2005 von einem Stricher ermordet) zum Thema zu machen, sich also gegen die biographische Steilvorlage entschieden, die mit Krimi-Lust, Neugier und Nähe zum Boulevard gleich drei vordergründige Produktionsargumente liefert. Das hätte dann vom Sujet her – im besten Fall – so etwas wie eine Neuauflage vom Walter-Sedlmayr-Biopic „Wambo“ (2000) geben können. Adolph hat sich aber bewusst für einen anderen Zugang entschieden: Er hat sich entschieden, nur zwei, drei Wochen aus dem Leben dieses Exzentrikers zu erzählen – und dabei ein Stück weit auch hinter Moshammers Maske zu blicken. Nicht, um ihn zu demaskieren, sondern um auch den Menschen zu zeigen, der in der Medien-Simulation späterer Jahre verlorengegangen ist. Er hat sich außerdem entschieden für Mosis Beziehung zu seiner in Hassliebe verbundenen Mutter. Und er hat sich vor allem entschieden, das Psychogramm seines Helden und den Zeitgeist der 1980er Jahre sich gegenseitig bespiegeln zu lassen und somit einen Blick auf jene Jubeljahre eines entfesselten Kapitalismus‘ zu werfen, der in München mit seiner Verehrung von Reichtum und Prominenz besonders unangenehme Blüten trieb. Adolph meistert das alles ohne gesellschaftliche Klischees und Küchenpsychologie, weil er das Große herunterbricht auf das ganz Kleine und sehr genau erzählt. Dazu gehört auch der Kunstgriff, die Handlung durch eine weitere Spiegelung zu bereichern, die Einführung des kleinen Ladenmädchens, das wie Mosi von „unten“ kommt. Durch diese liebenswerte Aschenputtel-Figur bekommt der Film einerseits etwas märchenhaft Überhöhtes, andererseits verkörpert jene Evi die Bodenständigkeit und „Authentizität“, nach der sich der große Zampano in seinen schwachen, melancholischen Momenten sehnt. Auf jeden Fall ist sie der positive Gegenentwurf zum billigen Narzissmus jener Jahre.
Foto: BR / Julie Vrabelova
Neben dem Plot-Entwurf und dem Zugang zu den Hauptfiguren stimmt bei „Der große Rudolph“ auch die Besetzung: Mit allen nuancierten Zwischentönen, ironischen Brechungen und Spiel-im-Spiel-Momenten dürfen Thomas Schmauser und Lena Urzendowsky (famos, was die Jungdarstellerin hier zum erneuten Mal abliefert) ihren Figuren Leben und Sympathiepotenzial einhauchen. Hannelore Elsner gibt eine ihrer Paraderollen als Biest. Etwas verbiestert und damit auch typisch agiert Sunnyi Melles‘ schwyzerdütsche Teilhaberin und Hanns Zischler als der etwas tumbe Toni ist ebenso treffend besetzt wie der doppelt komische Robert Stadlober. Der Wechsel, bisweilen auch das Nebeneinander, köstlich komischer und tragi(komi)scher Momente bestimmen den Flow dieses Films. „Sie berühren die Menschen; das ist Ihre große Gabe“, sagt Moshammer im Film zu Evi. Auch der Zuschauer bekommt davon etwas mit – und er wird sich auf ihre Seite schlagen, von Anfang an oder vielleicht erst später, als sie das Opfer einer Intrige von Else Moshammer wird. Und selbst bei Mosi weiß man nie genau, ob er „sein Mädchen“ nur benutzt oder es tatsächlich gut mit ihm meint. Von daher ist es auch emotionstechnisch klug, den weitgehend haltungslosen Spielern einen Menschen aus Fleisch und Blut gegenüberzustellen. Kontrast ist ohnehin ein Prinzip der Komödie. Dicht erzählt und spielerisch aufgelöst, kann das ein besonderer Genuss sein: In der zweiten Hälfte des Films gibt es eine Szene, in der Rudolph Moshammer an die Obdachlosen in seinem Laden Geschenke verteilt. Der Mann vom Privatsender („visuell muss es halt sein“) heizt die Situation an, und es kommt zur Stürmung des Ladens. Unterbrochen wird diese eher tragisch-dramatische Entwicklung, die zunächst einmal nicht sonderlich zur satirischen Tonlage des Films passt, durch ein Telefonat des Grafen, der sich durch das Tohuwabohu am anderen Ende der Leitung nicht stören lässt und in sanfter Seelenruhe Moshammer Komplimente macht. Inhaltlich und dramaturgisch ein großartiger Kontrapunkt.
Auch für die, die den kulturgeschichtlichen Sinn der 1980er Jahre vor allem aus seiner Ikonographie herleiten, die bekommen einen perfekten Vortrag über die Semantik der Zei-chen und die zeitgeistige Definition von Mode: Die Qualität der Materialien oder der Verarbeitung spielen keine Rolle mehr, doziert Moshammer, und die kleine Evi lauscht fasziniert den Worten des Meisters. Die Idee, die die postmoderne „Fashion“ transportiert, ihre Wirkung, bestimme hingegen den Warenwert. Und ein Riss im Nylonstrumpf mache darüber hinaus den Träger dieses Accessoires „interessant“. Der Mensch als „Lektüre“-Angebot für die Augen der Anderen. „Merken Sie sich, Sie bestimmen die Blicke“, versucht Moshammer, seiner Verkaufsassistentin die Autonomie über ihre modische Selbstdarstellung einzureden. Was in den Achtzigern – theoretisch – cool klang, das erwies sich allerdings bald als Trugschluss. Denn diese Art der narzisstischen Selbstbestimmung läuft genau genommen auf die völlige Fremdbestimmung hinaus. Für eine unterhaltsame Gesellschaftskomödie bringt Alexander Adolph am Rande überraschend viel vom ästhetischen Zeitgeist-Diskurs der 1980er Jahre in den Film ein. Das rundet diese Tragikomödie mit ihren stillen Momenten und die zugleich oftmals schreiend komische Gesellschaftssatire auch intellektuell ab und verweist indirekt auf die Gegenwart, in der die (un)sozialen Medien Begriffe wie „Authentizität“, Selbstausdruck oder Selbstbestimmung ad absurdum führen. (Text-Stand: 20.8.2018)